HERZLICH WILLKOMMEN BEIM VKM MENDEN!

Verein für körper- und mehrfachbehinderte Menschen e. V. (VKM) und VKM mobil gGmbH

Schön, dass Sie hier sind!
Das Motto des VKM seit 50 Jahren: Glück kann man teilen, Sorgen auch!

Auf diesen Seiten möchten wir uns und unsere Angebote vorstellen.

leichte sprache titel bearbeitet kleinBlättern Sie bitte durch unsere Seiten und informieren Sie sich über uns, über unsere Pläne und Ziele und über die Hilfen, die wir Ihnen anbieten.

Wir sind gerne für Sie da und danken für Ihr Interesse.

Der VKM Menden ist für Menschen mit Behinderungen da. Sie können sich die Seiten vorlesen lassen. Es gibt auch einen Bereich mit Leichter Sprache. Bitte hier klicken zum Weiterlesen in Leichter Sprache.

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Wohnen beim VKM: Einziehen und sich wohlfühlen

Wenn aus Kindern junge Erwachsene werden, stellt sich die wichtige Frage:
„Wie geht es weiter?“

Auch Kinder mit Behinderung möchten nach dem Ende der Schulzeit bei den Eltern ausziehen, um ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Eltern planen einen neuen Lebensabschnitt, in dem sie Verantwortung abgeben und mehr Zeit für sich selber haben. Umso wichtiger, dass sich alle mit der neuen Situation wohlfühlen – die Eltern und die Kinder.
 
Zu unserem Angebot gehören zwei verschiedene Wohn- und Betreuungsformen: das stationäre Wohnen und das Ambulant Betreute Wohnen. Ein Wechsel zwischen den Wohnformen ist je nach Hilfebedarf möglich.

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Offene Hilfen beim VKM: Rein ins Vergnügen!

Viele Kinder und Erwachsene mit Behinderung können an normalen Freizeitangeboten nicht oder nur mit Begleitung teilnehmen. Bei den Gruppenangeboten des VKM haben sie die Möglichkeit, aktiv zu sein, Freunde zu treffen und das Leben vielfältig zu genießen.
 
Die Bewohner unserer Wohnhäuser und andere Menschen mit Behinderung treffen sich im je nach Angebot in einem der Wohnhäuser. Hier findet das offene Freizeitangebot statt: Es wird gekocht, gekegelt und getanzt. Jeden Mittwoch trifft sich der LEA Leseklub in einer Bücherei.  Auch kleine Ausflüge stehen auf dem Programm.
Regelmäßig wird ein Programm aufgestellt. Wer möchte, kann eigene Wünsche einbringen. Alle Angebote werden von erfahrenen Pädagogen und ehrenamtlichen Helfern unterstützt, sodass sie auch von schwerer behinderten Menschen genutzt werden können.

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Inklusion für alle?

Buchempfehlung von Marie-Ellen Krause

 

 Sandra Roth
Sie kann lächeln

Inklusion bedeutet: Behinderte Kinder sollen nicht ausgeschlossen werden. Unsere Autorin Sandra Roth suchte einen Kindergartenplatz für ihre schwerbehinderte Tochter. Es war ein langer Kampf. (Quelle: Die Zeit)

Lotta soll in den Kindergarten gehen? « Ben lacht. »Die kann doch gar nicht gehen. « Lotta ist zwei und so schwer behindert, dass sie sich nicht mal an der Nase kratzen kann, ihr Bruder Ben ist fünf und einer der wenigen Menschen, die das Wort behindert so aussprechen wie blond oder kleine Schwester. »Wie geht das, Mama?«, fragt Ben und lacht schon wieder. »Lotta kann nicht Fangen spielen, nicht singen, nicht malen ...« Was macht ein Kind im Kindergarten, das so viel wohl nie lernen wird? Den anderen zusehen kann sie auch nicht, sie ist auch schwer sehbehindert. »Lächeln«, sagt Ben. »Das kann sie da. Kindergarten ist lustig, Mama.« – »Genau«, sage ich. Reicht das?

Lotta wurde mit einer Gefäßfehlbildung im Kopf geboren, einer sogenannten Vena-Galeni-

Malformation. Ein Teil des sauerstoffreichen Bluts in ihrem Kopf nahm schon während der

Schwangerschaft eine Abkürzung – am Gehirn vorbei. Heute steht auf ihrem Behindertenausweis »100 Prozent« und in ihren Arztbriefen »schwer mehrfach« und »spastische Cerebralparese«, sie bekommt Pflegestufe 3 und macht große Fortschritte dabei, ihren Kopf gerade zu halten.

Sie lacht, wenn im Radio Michael Jackson läuft, und gurrt wie eine Taube, wenn Ben sich neben sie legt und ihr vom Kindergarten erzählt. Sie hat blonde Locken, große Augen und Knie, die immer nach innen zeigen. Jede Woche absolviert sie Therapiestunden bei der Physiotherapeutin, der Logopädin und der sogenannten Sehfrühförderung, bei der sie schon gelernt hat, ihre Augen nicht kullern zu lassen, sondern still zu halten. Sie macht Fortschritte – weil sie gefördert wird.

Ben und Lotta heißen in Wirklichkeit anders. Wem diese Namen bekannt vorkommen, erinnert sich vielleicht an die Ausgabe des ZEITmagazins von Anfang 2012, in der ich von Lottas Diagnose erzählt habe. In einem Buch, das in diesen Tagen erscheint, geht die Geschichte weiter.

Behinderte Menschen leben oft in einer Parallelwelt

Bei unserer Kinderärztin liegt eine Petition von Eltern eines Mädchens aus, das ähnlich schwer behindert ist wie Lotta. Sie absolviert acht bis neun Stunden täglich ein auf sie abgestimmtes Therapieprogramm. Sie war nie im Kindergarten – die Therapie sei wichtiger, schreiben die Eltern. Nun sammeln sie Unterschriften, um ihre Tochter von der Schulpflicht befreien zu lassen. Das ist sicher ein Extremfall. Und doch – in welchem Kindergarten kann Lotta so individuell gefördert werden wie zu Hause? »Vielleicht geht sie in einen speziellen Kindergarten«, erkläre ich Ben. »Nur für Kinder mit Behinderung.« Heilpädagogische Einrichtung nennt sich das. Acht Kinder, drei Betreuer, viele Therapeuten. »Das ist doof«, sagt Ben. »Da darf ich ja nicht rein.«

Behinderte Menschen leben in Deutschland in einer Parallelwelt. Den Kindergarten besuchen sie oft noch gemeinsam mit den Nachbarskindern, doch spätestens in der weiterführenden Schule gehen behinderte Kinder in Sondereinrichtungen. Morgens werden sie mit dem Bus abgeholt, kaum einer macht einen Abschluss, einzige Perspektive für die meisten: die Behindertenwerkstatt.

Gut gefördert, aber unter sich, abgeschottet, weit weg von dem Leben, das Ben führen wird. Will ich das für meine Tochter? Zu Hause lebt sie auch nicht unter schwerbehinderten Menschen – warum sollte sie es im Kindergarten? Ich rufe trotzdem zuerst im heilpädagogischen Kindergarten an.

»Ich wollte mit meiner Tochter mal vorbeikommen und uns eventuell anmelden.«

»Das wäre schön«, kommt es vom anderen Ende. »Aber das geht leider nicht.«

»Wieso?« – »Wir schließen.« – »Wieso?« – »Wir sind politisch nicht mehr gewollt.« Es ist der letzte heilpädagogische Kindergarten in Köln.

2009 hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, in dem Jahr, in dem Lotta geboren wurde. Inklusion heißt das Stichwort dazu. Integration hieß: Du darfst mitmachen – wenn du dich anpasst. Inklusion heißt: Wir gehören alle zusammen. Die inklusive Gesellschaft soll keinen mehr ausschließen. Alle Menschen haben beispielsweise Anspruch auf den gleichen Zugang zu Bildung, alle Kinder sollen auf die gleichen Schulen gehen können. Das ist ein Menschenrecht. Im Moment gehen in Deutschland nur circa 25 Prozent der Schüler mit Förderbedarf auf Regelschulen, in anderen Ländern sind es 85 Prozent. Das soll sich ändern. Nur wie? Sollen die Sonderschulen geschlossen werden – so wie der Kindergarten in Köln geschlossen wurde? Sollen sie geöffnet werden für andere Kinder? Wie soll sie aussehen – die »eine Schule für alle«?

Gemeinsamer Unterricht – wie soll das funktionieren?

Darüber streiten die Experten, die Bundesländer entwickeln Inklusionspläne, und die Kultusminister haben Inklusion zum Bildungsthema 2013 erklärt. Während alles um uns herum im Umbruch ist, suchen wir nach dem richtigen Weg für Lotta. Einige Schulen haben bereits mit dem sogenannten Gemeinsamen Unterricht begonnen.

»Und der pinkelt Mariella immer in den Ranzen.« – »Nein!« – »Doch, jeden Morgen. Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.« Auf einer Party, wir stehen um Stehtische. Ich, mein Mann Harry und drei Kolleginnen des Gastgebers.

»Der hat das Downsyndrom«, sagt die Erste mit gesenkter Stimme. »Aber trotzdem, ich sage dir, der macht das mit Absicht. Das ist Mobbing. Mariella will schon nicht mehr in die Schule.«

»Und was machst du jetzt?«, fragt die Frau daneben. »Ich habe schon mit dem Lehrer gesprochen, aber da steht man gleich als behindertenfeindlich da. Vielleicht müssen wir wechseln. Gemeinsamer Unterricht – so ein Quatsch.«

»Man tut den Kindern keinen Gefallen damit. Der merkt bestimmt, dass er langsamer ist als die anderen«, die Dritte.

Harry und ich schweigend und kauend daneben.

»Klar, und der hält die ganze Klasse auf. Die hinken dem Lehrplan sowieso hinterher. Wie sollen die in den 100er-Zahlenraum kommen, wenn der die ganze Zeit dazwischenblökt?«

»Vorsicht«, sagt Harry. »Unsere Tochter ist auch behindert.« Stille. Gezwungenes Lächeln.

»Echt? Das denkt man gar nicht, wenn man euch so sieht ...«

Harry stellt sein Glas ab. »Wer von den Damen möchte denn noch einen Crémant?« Als er in die Küche geht, zwinkert er mir zu.

Wie soll Inklusion funktionieren, wenn sich die einen um den 100er-Zahlenraum sorgen und die anderen um Physiotherapie? Wie muss Inklusion umgesetzt werden, damit sie Behinderte und Nichtbehinderte näher zusammenbringt, statt sie weiter auseinanderzutreiben? Einen Sonderkindergarten gibt es in unserer Stadt nicht mehr, aber zahlreiche integrative, mit gemischten Fördergruppen. Ich melde uns bei sieben Einrichtungen an.

Im Kinderkrankenhaus, Wartezimmer. Neben uns ein Mädchen im Rollstuhl, der Kopf gestützt, die Hände verdreht. Die Mutter, höchstens Mitte 30, mit Blümchenbluse und offenem Blick. Nach zwei Minuten Small Talk sind wir beim Kern meines Problems: »Wie hast du das gemacht mit dem Kindergarten?«, frage ich. »Die wollten uns nicht.« – »Wie – die wollten euch nicht?« – »Wir wohnen weit draußen. Bei uns im Ort gibt es nur einen integrativen Kindergarten, und denen war Mia zu heiß.« – »Zu heiß?« – »Die Sonde«, sagt sie. »Die Anfälle.« – »Und dann?« – »Mia geht eben nicht in den Kindergarten.« – »Gar nicht?« Die Mutter schüttelt den Kopf. Ich frage: »Wie machst du das dann? Willst du nicht mal ...?« Sie schaut mich an. »Ich frage nur, weil ich gerade nach einem Kindergarten suche.« Sie sagt: »Darf ich dich etwas fragen, das vielleicht komisch klingt? Ist deine Tochter lebenszeitverkürzend erkrankt?« – »Lebenszeit ... Nein, ich glaube nicht.« – »Dann hättest du sie zumindest im Hospiz abgeben können. Das mache ich alle paar Wochen, für ein paar Tage. Ich erhole mich, und weiter geht’s.« – »Im Hospiz?« – »Das ist nicht so gruselig, wie es klingt«, sagt sie. »Das ist eigentlich sehr schön für Mia. Ohne diese Auszeiten könnte ich schon lange nicht mehr.«

Wo wird Mia einmal zur Schule gehen? Mütter in Lottas Frühfördergruppe erzählen von Kindern, die ins Internat müssen, weg von zu Hause, weil es in der Nähe keine Schule für sie gibt. Ärzte erzählen von Kindern vom Land, die krankgeschrieben werden, weil der Busfahrer kein Kind mit Anfällen mitnehmen will. Die nie große Pause haben und keine Klassenkameraden – obwohl sie nicht zu krank für die Schule sind. Andere geben Tipps, wie man sich einklagt, auch behinderte Kinder haben ein Recht auf Bildung, nur müssen es die Eltern öfter vor Gericht durchsetzen. Eine Schule für alle soll es einmal geben – gibt es jetzt denn eine Schule für jeden?

Von den integrativen Kindergärten bekommen wir nur Absagen. Von den kirchlichen, den privaten und auch von der Stadt.

»Wir müssen die älteren Kinder bevorzugen«, heißt es. Oder: »Es gibt eben nur sehr wenige Plätze.«

Oder: »Wir müssen auch auf die Zusammensetzung der Gruppe achten. Die Mischung muss stimmen.«

Sie sagen »Mischung«, und es klingt wie »Ihr Fall ist zu schwer«. Eine Mutter aus Lottas

Frühfördergruppe bekommt für ihren Sohn für das gleiche Kindergartenjahr in einem anderen Viertel Kölns Plätze in vier Einrichtungen. »Willst du einen von meinen haben?«, fragt sie. Ihr Sohn ist jünger als Lotta und weniger schwer behindert. Er kann laufen und alleine essen. Es ist sicher Zufall. Oder ist gut für die Mischung, wer weniger Hilfe braucht?

»Wir sind nicht offiziell integrativ. Aber unsere Arme sind ganz weit offen.« Zora Müller, Mitte 30, Kapuzenpulli, Chucks, rote Haare. In dem Gebäude, in dem früher der heilpädagogische Kindergarten war, entsteht ein neuer Kindergarten, Träger ist ein Verein. Zora ist Gründerin und Leiterin, hat Heilpädagogik und Sonderpädagogik studiert und scheint sich zu freuen, dass ich in ihrer Einrichtung ein schwerbehindertes Kind anmelden möchte. Sie wäre die Erste.

»Warum wollt ihr so gerne behinderte Kinder aufnehmen?«, frage ich. »Warum denn nicht?« Zora schweigt. Wartet sie auf eine Antwort? Sie lächelt. »Ich sehe da gar keinen Diskussionsbedarf. Bei einem Regenbogen frage ich auch nicht: Muss Gelb unbedingt noch sein? Rot und Blau reichen doch schon. Gelb gehört eben auch dazu.«

Der Kindergarten hat zwei Gruppen mit je 15 Kindern zwischen einem und sechs Jahren – betreut von zwei Erziehern plus Praktikantin. Kann das funktionieren? Kann man gleichzeitig 14 Kleinkinder betreuen und ein schwerbehindertes Mädchen fördern? Allein Lottas Mittagessen bedeutet 50 Minuten konzentriertes Füttern.

»Das funktioniert nur mit zusätzlicher Unterstützung«, sagt Zora. Wir beantragen einen Integrationshelfer, einen Begleiter in den Kindergarten. Behinderte Kinder, die eine Regeleinrichtung besuchen, haben einen Rechtsanspruch darauf, wenn sie die Bedingungen erfüllen. Wie genau die sind, will mir beim Amt niemand erklären.

»Warum ist das so kompliziert?«, frage ich.

»Wenn wir allen behinderten Kindern einen Integrationshelfer an die Seite stellen würden, was meinen Sie, wie teuer das wäre?«, sagt mir ein Gesprächspartner. Vier Wochen – diese Zeit sollte ich für die Bearbeitung einplanen, hat mir die Dame vom Sozialamt gesagt. Danach könnten wir einen Integrationshelfer für Lotta haben. Wir beantragen noch zusätzliche Fördermittel bei einem anderen Amt und beginnen mit der Eingewöhnung.

Drei Wochen lang bin ich jeden Tag dabei, beim Singkreis, auf dem Spielplatz, beim Mittagessen. Ich gewöhne nicht nur Lotta ein. Nur die wenigsten hier hatten schon einmal Kontakt mit behinderten Kindern, jetzt sollen sie eins betreuen. Es ist eine Herausforderung, der sich in den nächsten Jahren viele Lehrer und Erzieher werden stellen müssen.

»Was hat sie denn?« Eine Erzieherin wiegt Lotta in den Armen, deren Mundwinkel ziehen sich nach unten. Sie jammert. Die Erzieherin summt, wiegt und fragt: »Vielleicht hat sie Hunger?« – »Vielleicht ist ihr langweilig«, sage ich. »Versuch’s mal mit Hoppe Reiter.«

Wir kriegen eine Antwort auf unseren Antrag auf Fördermittel – abgelehnt. In Lottas Gruppe werden auch unter Dreijährige betreut, das ist in den Statuten der Ämter noch nicht vorgesehen. »Aber das ist die Zukunft, müsste das nicht überarbeitet werden?« – »So schnell geht das nicht«, höre ich. Wir legen Einspruch ein. Vom Integrationshelfer hören wir nichts und fragen nach. Erst ist der Antrag nicht angekommen. Dann ist er beim falschen Amt. Amt A sagt: »Gehen Sie zu Amt B.« Amt B sagt: »Nein, da müssten Sie zu Amt A.« Alle sind sehr nett und hilfsbereit, keiner streitet ab, dass Lotta Hilfe braucht und der Kindergarten Unterstützung. Wir schicken Einschreiben, beschweren uns beim Behindertenbeauftragten, wir sprechen persönlich vor. Wir laufen gegen Wattewände. Monate vergehen.

Jedes Mal, wenn ich Lotta nach dem Mittagsschlaf abhole, finde ich am Schwarzen Brett einen Zettel mit allen Kindernamen. Unter »Finkengruppe, Lotta« steht: »Lotta hat heute mit Theo und Kofi gebastelt.« – »Gebastelt?«, frage ich Katarina, die Erzieherin. »Habt ihr euch nicht im Kind geirrt?« – »Nein«, sagt sie lächelnd. »Die anderen haben Watte auf Pappe geklebt, und Lotta hat mit den Händen draufgedrückt, bis der Kleber trocken war.« Ben steht neben mir und küsst Lotta. »Jetzt kannst du auch schon basteln«, sagt er. Kofi kommt und küsst Lotta auf die andere Backe. »Das ist meine Lotta«, sagt Ben. »Komm, wir gehen.« – »Die anderen Kinder halten noch Abstand, oder?«, sage ich zu Katarina. »Ja, die wissen nicht so ganz, wie sie Lotta einordnen sollen. Aber Ida ist neugierig, die traut sich bestimmt bald.« Ida hat gerade laufen gelernt. Latzhose, rote Haare, Kuhfellpantoffeln. Lotta heißt bei ihr Lolla.

Es kommen die Tage, an denen morgens Zora anruft und darum bittet, dass wir Lotta heute nicht in den Kindergarten bringen. Es sind zu viele Erzieher krank: »Wir schaffen das heute nicht.« Es kommen die Tage, an denen ich mich frage, wann sich die anderen Eltern beschweren werden, weil die Erzieher zu viel Zeit für mein Kind aufwenden und zu wenig für ihres. Wie lange können wir ohne Integrationshelfer weitermachen? Ich gehe zu einer Anwältin und lasse mich beraten. »Es kommt mir vor, als schöben sich die Ämter gegenseitig die Verantwortung zu. Als hofften sie, dass wir aufgeben ...« Das sei kein Einzelfall, sagt die Anwältin. Vielleicht müssen wir vor Gericht ziehen. »Vielen Eltern bleibt keine andere Wahl. Die Ämter lassen es darauf ankommen.«

Als ich Lotta aus dem Kindergarten abhole, legt Zora im Flur ihren Finger vor den Mund. »Komm mal ganz leise mit«, sagt sie. »Vielleicht bemerkt Lotta dich nicht ...« Sie öffnet die Tür zum Gruppenraum der Finken. Lotta liegt auf ihrem roten Sitzsack, daneben Ida. Sie liegen Nase an Nase. »Lolla«, sagt Ida.

»Oi«, sagt Lotta. Lotta hat den Mund offen, Ida reißt ihren ebenfalls auf und presst ihre Lippen an

Lottas. Sie legt den Arm um ihren Hals. Lotta strampelt aufgeregt mit einem Bein. «Lolla.« – »Oi.«

Wenn ich sie in den Kindergarten bringe, lacht Lotta. Wenn Ida und Kofi in den Flur stürmen, fängt sie an zu strampeln vor Freude. Sie macht mehr Laute als früher, sie ist wacher, sie profitiert. Was mögen Kofi und Ida an Lotta? »Haut nicht«, sagt Ida. »Beißt nicht.« – »Dass sie meine Freundin ist«, sagt Kofi. Unsere Therapeuten sind einverstanden, Lottas Sitzungen im Kindergarten abzuhalten, die Erzieher lassen sich anleiten. Die am Anfang die meisten Bedenken hatten, sind nun die mit dem größten Stolz: »Ich habe sie heute dazu gebracht, auf dem Bauch zu liegen!« – »Sie hat mittags zwei Portionen gegessen – ohne Verschlucken!« Als Lotta drei wird, schreiben sie eine Karte mit den Fingertupfen aller Kinder drauf: »Wie schön, dass du bei uns bist.« In der Woche danach fällt eine Erzieherin aus, und Lotta bleibt einen Tag zu Hause. Ein halbes Jahr ist um, und wir haben keinen Integrationshelfer. Ich engagiere die Anwältin, wir drohen mit einer Klage.

Von der Stadt kriegen wir Post: ein Platz in einem integrativen Kindergarten. Wir lehnen ab. »Wir haben schon einen Platz gefunden.« Bei einem Elternnachmittag nimmt mich eine Mutter zur Seite und sagt: »Wie schön, dass meine Tochter diese Erfahrung machen kann. Dass sie Lotta kennenlernen kann, bevor sie in ihrem Kopf Schubladen hat, um die Menschen dareinzustecken.« Inklusion kann so einfach sein – wenn sie denn einer bezahlen würde.

Eines Abends finde ich einen Briefumschlag von Zora im Briefkasten, sie wollte so spät nicht klingeln.

Darin eine selbst gebrannte CD, ein Video: Lotta heute, im Flur des Kindergartens in ihrem

Therapiestuhl, auf dem Tisch vor sich ein Zirkuszelt aus Blech, eine Spieluhr, die so groß ist, dass sie Lotta bis ans Kinn reicht. Wenn sie ihr Kinn senkt, kann Lotta die Musik anhalten. Sie liebt das. Zora hat Lotta und die Spieluhr mit in den Flur genommen – für eine konzentrierte Förderstunde zu zweit, während die anderen nebenan im Singkreis sitzen. Durch die geschlossene Tür hört man sie singen: »Die Ida ist jetzt an der Reih und saust an uns vorbei.« Lotta lächelt ein Grübchenlächeln. »Hei«, gurrt sie. Die Spieluhr ignoriert sie. Zora: »Hörst du die Kinder singen?« – »Hei«, Lotta dreht den Kopf und schaut in die Richtung, aus der das Singen kommt. »Der Kofi ist jetzt an der Reih ...« Breites Lächeln. »Hei!« – »Willst du mitsingen?« fragt Zora. Lottas Grübchen werden tiefer. Sie dreht ihren Kopf so stark, als wollte sie mit purer Willenskraft zu den anderen gelangen. »Willst du zu den Kindern?«, fragt Zora. Lotta: »Hei!« – »Na, dann bring ich dich hin.« Lotta strahlt. Ich sitze vor dem Bildschirm und habe Tränen in den Augen.

Auf dem Fußballplatz neulich, bei Bens Training. »Das geht?«, fragt mich eine andere Mutter. »In einem ganz normalen Kindergarten? Funktioniert das?« Ja, das funktioniert. Sie wird dort gefördert, und sie hat mir gezeigt, dass etwas anderes für sie genauso wichtig ist: Freunde finden und mit ihnen zusammen sein. Dafür ist es unwichtig, ob sie mitsingen kann oder nur »Hei« gurren. Wir haben Erzieher gefunden, die fast ein ganzes Jahr lang neben dem normalen Betrieb Lotta mitgetragen haben. Freiwillig. Wir haben erfahren, wie sehr man um staatliche Unterstützung für dieses persönliche Engagement kämpfen muss. Wir haben endlich die Fördermittel und eine Integrationshelferin bewilligt bekommen – es hat elf Monate gedauert statt vier Wochen. Sie heißt Bella und sagt: »Lotta bewegt sich so viel, ich glaube, dass die irgendwann krabbelt.« Unser Kindergarten wird im nächsten Jahr das nächste behinderte Kind aufnehmen. Und ich werde diesen Herbst anfangen, mir Schulen für Lotta anzusehen. Ich weiß nicht, in welche Schule Lotta einmal gehen wird. Wie weit wir dann mit der Inklusion sind. Ob wir dann noch die Wahl haben zwischen Sonder- und Regelschulen. Ob Lotta dann wirklich krabbeln kann – oder anderen in den Ranzen pinkeln. Ich weiß, dass Inklusion funktionieren kann, wenn man es wirklich will – und bereit ist, dafür zu kämpfen. Wir haben großes Glück gehabt, und ich hoffe, wir werden es auch bei der Schule haben. Ich finde, es sollte keine Glückssache sein.

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Auf dem Weg zum Miteinander Integration. Bislang gehen in Deutschland nur circa 25 Prozent der Schüler mit Handicap auf Regelschulen. Der Großteil besucht Förderschulen. Integration bedeutet: Behinderte Kinder werden in die Regelschulklassen aufgenommen, dort aber als eigene Gruppe betrachtet. Für den Förderunterricht werden die behinderten Schüler stundenweise aus der Klasse genommen.

In den neunziger Jahren kam in Deutschland der Begriff »Inklusion« auf, er bedeutet »Einbeziehung«.

Inklusion

Laut UN-Behindertenrechtskonvention dürfen Menschen nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden. Deutschland hat die Konvention 2009 ratifiziert. Inklusion heißt: Wir gehören alle zusammen. In der Schule bedeutet das, dass behinderte Kinder immer in ihrer Klasse bleiben sollen. Lehrer mit sonderpädagogischer Ausbildung decken dort den zusätzlichen Förderbedarf ab.

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Sandra Roth: Lotta Wundertüte Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013; 18,99 Euro *

 

Quelle:  Die Zeit, © Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG

 

Artikelnr: A55227902, Mittwoch 14.08.2013, Nr: 34, Seite: 63-64

 

Autor(en): *Sandra Roth*